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Besser Leben

Leipzig: Zwischen Moral und Schweinehund

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Selbstversuch zur Plastikvermeidung auf dem Markt: Redakteur Mark Daniel kauft Obst und Gemüse am Stand von „ernte-mich“. Foto: André Kempner

Am liebsten möchte man zugreifen. Sehen einfach zu gut aus, die Himbeeren. Aber der Zensor im Kopf erhebt Einspruch: „Finger weg, Plastikschale!“ So gut wie immer gewinnt er. Und das seit 20 Monaten, seit meinem als LVZ-Serie veröffentlichten Selbstversuch: Wie leicht oder schwer fällt Nachhaltigkeit, wie gut funktioniert die Reduzierung von Plastikmüll? Immerhin so gut, dass ich am Ball bleibe – trotz gewisser Hindernisse.Das größte aktuelle Müllproblem schuf die Corona-Krise. Der Frühjahrs- sowie der aktuelle Lockdown verursach(t)en unter anderem mehr Verpackungen für Essen und Getränke zum Abholen, mal ganz abgesehen von Einweghandschuhen. Laut Recyclingunternehmen „Der Grüne Punkt“ waren die gelben Tonnen im ersten Halbjahr bundesweit durchschnittlich um 4,5 Prozent stärker gefüllt als sonst.Mehr Müll durch HomeofficeDas hat natürlich auch mit dem pandemiebedingten Trend zum Home-Office zu tun, wie wir im eigenen Zwei-Personen-Haushalt bestätigen können. In den ehrgeizigsten prä-coronischen Zeiten lag unsere Verpackungs-Reduzierung bei rund 75 Prozent, nur alle zehn Tage mussten wir den Müll runterbringen. Jetzt ist das alle fünf Tage nötig – immerhin noch unter dem alten Level.Das hat mehrere Gründe: Himbeeren nur in Pappschalen zu kaufen beispielsweise. Bei uns überlebt haben die damals gefassten Vorsätze, bechersparend Joghurt selbst zu machen und öfter auf dem Markt Obst und Gemüse aus der Region zu kaufen, transportiert in mitgebrachten Beuteln. Nur bei Zeitnot bekommt ein Supermarkt den Vorrang – Äpfel, die aus Neuseeland oder Argentinien umweltschädlich importiert wurden, kommen aber nicht in die Tasche.Problematische ÖkobilanzWobei da schon die erste Fußangel lauert: Je nach Produktion und Lagerung kann deutsches Obst in der Ökobilanz schlechter abschneiden als das ins Land geholte. Der Anbau in Neuseeland beispielsweise ist energiesparender, weil die Apfelbäume dort mehr Früchte tragen. Das senkt Herstellungskosten und klimaschädliche Emissionen.Klar, 23 000 Kilometer Transportweg sind absurd lang. Doch nach der Ernte in Deutschland verbringt ein Großteil der hiesigen Äpfel teilweise Monate im Energie fressenden Kühlhaus. Mit jeder weiteren Woche gleicht sich die Klimabilanz dem Neuseeland-Apfel an. Ich kauf die Dinger trotzdem nicht!Eine grandiose Bereicherung ohne Einschränkung ist die Gemüse-Lieferung der Leipziger Genossenschaft KoLa (Kooperative Landwirtschaft). In Kisten, ohne weitere Verpackung, kann man Vitaminbomben aus ökologischem, lokalem und fairem Anbau einmal pro Woche in einer ausgewählten Konsum-Filiale abholen. Mit Freunden teilen wir uns seit erst zwei Monaten eine Kiste und sind begeistert. Man isst, was die Natur gerade hergibt, und es schmeckt verdammt gut.Shampoo-Seife hat sich etabliertEbenfalls großartig ist nach wie vor das Benutzen von fester Shampoo-Seife in der Pappschachtel, ganz ohne Plastik. Beim Test vor fast eineinhalb Jahren lungerten in der Drogerie – fast verschämt – nur zwei Sorten im Regal herum, mittlerweile liegt die Auswahl bei einem knappen Dutzend. Vier Marken hab ich bislang ausprobiert, zwei davon entwickelten jedoch zu wenig Schaum für ein gutes Kopfwäsche-Gefühl. Auch feste Duschseife gibt’s inzwischen.Das alles ist bei uns zu Hause genauso installiert wie die Handseife: am an die Wand geklebten Magnethalter. Da klebt nix, da tropft nix, und Besucher sind beim Anblick der Teile mit Retro-Charme immer schwer begeistert. Fürs Schaumbad in der Wanne haben wir noch keine verpackungsarme Variante entdeckt, greifen aber auf mikroplastikfreie Produkte in Flaschen aus recyceltem Material zurück.Reinigungs-Alternative ist gescheitertApropos Wanne und Saubermachen: Der Versuch, Wasch- und Reinigungsmittel selbst herzustellen, wurde trotz aller guten Vorsätze – um im Bild zu bleiben – zum Griff ins Klo. Zwar säubern auch Natron, Essig und Soda die Keramik-Kollektion, weil aber die schmutzabweisende Schicht aus industriell hergestellten Reinigungsmitteln fehlt, kommt der Dreck so schnell zurück, dass der alte Meister Proper hämisch mit dem Auge zwinkert. Immerhin bevorzugen wir Hersteller umweltfreundlicher Mittel.Und die Unverpackt-Läden? Sind toll und verzeichnen stabilen Zuspruch, habe ich seit dem berufsbedingten Besuch aber trotzdem nur dreimal betreten – weil keines der Geschäfte in der Nähe meines Viertels liegt. Im Duell Zeit- gegen Plastiksparen zieht die Moral den Kürzeren, der innere Schweinehund wedelt mit dem Schwanz.Man kann’s nur falsch machenUnd sonst? Es gibt Bereiche, in denen man das Richtige will, es jedoch bloß anders falsch macht. Vom Leipziger Bündnis für Abfallvermeidung ist zu erfahren, dass Bioplastiktüten oder biologisch eigentlich abbaubare Verpackung aus Maisstärke in Leipzig keinesfalls im Biomüll landen sollten, weil die hiesige Infrastruktur der Abfallwirtschaft sie noch als normalen Müll identifiziert. Auch beim Thema Milch bekommt der gute Wille eins auf die Zwölf: Aus Tierschutz-Gründen sind wir auf Hafermilch umgestiegen – die gibt es aber nicht in Flaschen, sondern nur in schlechter zu recycelnden Tetra-Paks. Ärgerlich.Dennoch: Ein Stück weit das Müllaufkommen zu reduzieren und das Bewusstsein für Nachhaltigkeit geschärft zu haben, verschafft ein ziemlich gutes Gefühl. Und klar, wir bleiben dran. Zum Schluss noch ein Tipp für alle, die müllfrei Dinge entsorgen beziehungsweise den Kauf von Neuware vermeiden wollen: Die Verschenk-Community „Free Your Stuff“ funktioniert nach dem Prinzip des Geben und Nehmens. Motto: „Wegwerfen war gestern, heute wird verschenkt.“ Nachhaltiger geht’s wirklich nicht. Von Mark Daniel

Nachklapp zum Selbstversuch „Leben ohne Plastik“ vor 20 Monaten: Der Blick auf Nachhaltigkeit ist unverändert